Greenwich – Null-Schiene, Vermessung der Welt

Entlang des Ärmelkanals mit der MS Deutschland – Bericht 4

Unser Schiff, die MS Deutschland, liegt auf der Themse, direkt am Zentrum von Greenwich, der kleinen Universitätsstadt, einem Stadtteil von London. Am Morgen war der Ort nur Ausgangspunkt, um mitten hinein nach London zu kommen. Jetzt nutzen wir die Abendstunden, uns noch ein wenig umzusehen, und am Folgetag wird es noch einmal eine Gelegenheit geben, ein paar Eindrücke einzusammeln – das Schiff verbleibt über Nacht auf der Themse.

Direkt bei unserem Liegeplatz liegt an Land, mittlerweile aufgesetzt auf einen gläsernen Museumsbau in Form einer Welle, bereits seit etwa 70 Jahren der englische Tee- und Wollklipper Cutty Sark, gebaut 1869 – einst eines der schnellsten Segelschiffe, das mit einer Geschwindigkeit von bis zu etwa 17 Knoten unterwegs war.

Nach langer bewegter Geschichte, in den Dienstzeiten des Schiffes vor allem auch bedingt durch die Ablösung der Segler durch die damals neuen Dampfschiffe, landete es endgültig in Greenwich. In den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ließ es ein pensionierter Kapitän namens Wilfred Dowmen im Originalzustand wieder herstellen, es war dann zunächst Ausbildungsschiff, wurde bereits 1954 zum Museumsschiff, und liegt seit 1957 in Greenwich.

Im Kuppelgebäude am Themseufer, direkt beim Schiff, geht es hinunter in den immer noch genutzten alten Themsetunnel aus dem Jahre 1902, etwa 370 Meter lang, der hinüber zur anderen Uferseite führt. Und hinter dem Segler ist auf der Anhöhe das Greenwich Observatorium auszumachen.

Wenige Schritte weiter liegt daneben das Old Royal Naval College, gebaut im 16. und 17. Jahrhundert, aber ziemlich direkt umgewidmet und fertiggestellt als Royal Hospital for Seaman, als das es bis 1873 genutzt wurde – und heute ist es ein imposantes Universitätsgebäude mit weitläufigen Anlagen.

Es ist ein geschichtsträchtiger Ort; hier im Hospital wurde zum Beispiel Nelson 1805 aufgebahrt, bevor er in der St. Paul’s Cathedral beerdigt wurde.

Über einen der seitlichen Eingänge kommen wir auf das College-Gelände. Wir stehen vor einem monumentalen Gebäudeensemble, symmetrisch angelegt, von der Themse aus auf das Queen’s House zuführend, mit mächtigen Säulengängen.

Bei inzwischen launischem Wetter, mal sind dicke Regenwolken, mal ist es Sonnenschein, und je nach Himmelsrichtung sich fröhlich abwechselnd, wirken jetzt am frühen Abend die Gebäude doch ziemlich düster. Nur wenn die Sonne zwischen den Wolken hindurchfindet, ist die vermittelte Stimmung etwas angenehmer, aber eher einfach imposant.

Es ist eben kein lichtes, verziertes, ausgeschmücktes Barockgebäude, das da vor uns liegt, sondern eher ein wuchtiges, schwerfälliges Bauwerk, das nur in wenigen Innenhofbereichen zumindest ein wenig Freundlichkeit ausstrahlt.

In die andere Richtung öffnet sich die Hofanlage zur Themse hin; der Blick richtet sich über den Fluss hinweg aus auf die in den letzten Jahren entstandenen Hochhausquartiere Londons, aber doch im Stadtteil Greenwich liegend.

Unser Weg führt uns durch eine der Säulenalleen zum Queen’s House mit den anscheinend bei den Studierenden sehr beliebten Parkanlagen, dann vorbei am National Maritime Museum, einem der weltweit größten Museen zur Geschichte der Seefahrt, noch ein Blick oben zum Observatorium, und wieder geht es hinein in die kleine Innenstadt.

Im Gegensatz zum „modernen“ Greenwich auf der anderen Seite des Flusses wirkt die „alte“ Stadt geradezu beschaulich, zeigt sich beim kurzen Spaziergang als durchaus charmantes Städtchen, in dem man auch mehr Zeit verbringen können hätte – so ein wenig durch stöbern in der Universität, oder auf dem Markt oder in einem der Museen.

Ein besonderes Erlebnis wäre auch noch ein Besuch bei Goddards at Greenwich gewesen – und dort einen der typischen bodenständigen Klassiker der Arbeiterküche Englands genießen, bei Goddards noch produziert wie 1890, Pie & Mash, Hackfleisch in Blätterteig, garniert mit einer Petersiliensoße, die als Likör bezeichnet wird. Aber wir sind nach einem langen London- und Greenwich-Tag müde am Ufer der Themse angekommen, sehen dort gerade noch eines der Schnellboote, die Greenwich mit der Innenstadt verbinden. Für uns geht es in der Abendstimmung zurück mit dem Transferboot zur MS Deutschland, zum ungewöhnlichen Liegeplatz mitten auf der Themse.

Über Nacht verbleibt das Schiff am Liegeplatz auf der Themse. Am nächsten Morgen ist „kreuzen auf der Themse“ angesagt; es fährt es die Themse hinab, mit nur wenigen Passagieren, dann bis Dover. Viele haben sich für einen Tagesausflug im Südosten Englands entschieden, quer durch die Grafschaft Kent, und werden bei einem kurzen Stop des Kreuzfahrtschiffes in Dover wieder eingesammelt. Wir gehören auch dazu.

Früh aufstehen heißt es, zumindest für diejenigen, die über Land fahren. Bereits um halb acht geht es los mit dem Ausflug. Ab zum Ufer, in den Bus, in Greenwich gibt es noch einen kurzen Stop am Royal Observatory und dem daneben inmitten des Parks liegenden Planetarium.

Wir stehen an dem Ort, der Greenwich weltweit so bekannt und wichtig gemacht hat, am Observatorium mit dem Teleskop. Hier wurden mit einem astronomischen Koordinatensystem die Grundlagen für globale Navigation und Zeitmessung geschaffen. Auf einen Nullmeridian an dieser Stelle konnte sich 1884 eine internationale Meridian-Konferenz einigen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Länder jeweils eigene Festlegungen, was die Einigung auf einen gemeinsamen Nullmeridian aus politischen Gründen nicht erleichterte.

Wir sind an der Stelle, die Ausgangsbasis der Vermessung der Welt und Grundlage aller Navigation ist, die diese Welt nachhaltig prägte und die all das eröffnete, was heute als Globalisierung umschrieben wird. Der Null-Meridian selbst zeigt sich als wenig spektakulär – wenn man es nicht wüsste, würde man die glänzende Metallschiene, die vor dem Gebäude liegt und in dieses hineinführt, wohl kaum wahrnehmen. Es könnte ja auch nur ein Gestaltungselement sein im Zusammenhang mit dem Pflaster, das hier liegt.

Aber dieses Stück Metall ist weit mehr – es hat die Welt verändert und bestimmt sie immer noch. Auch wenn heute mit anderen wissenschaftlichen Methoden festgestellt wird, dass der „wirkliche“ Meridian etwa 100 Meter von der in Greenwich verlegten Schiene entfernt verläuft – dann sind das Marginalien, die hinsichtlich der weltgeschichtlichen Bedeutung der „alten“ Schiene fast lächerlich scheinen.

Einhergehend mit der Vermessung der Welt durch die Meridiane sind es die Zeitzonen, die ebenso ausgehend vom Observatorium festgelegt wurden – auch ein Nullpunkt, veranschaulicht am Eingangstor zum Gebäude durch die Prime Meridian Uhr, mit einem 24-Stunden-Uhrwerk und -Ziffernblatt, eine der ersten elektrisch betriebenen Uhren aus dem Jahre 1852.

Auffallend ist auch der Signalball oben auf dem Observatorium – er diente dazu, dass die Seeleute ihre Schiffschronometer justieren konnten. Genau um ein Uhr Greenwich-Zeit fällt der Ball in seiner Führung hinab, wird fünf Minuten später auf die halbe Fallhöhe und drei Minuten danach wieder ganz hoch gezogen.

Der Himmel ist leider ziemlich bewölkt, aber trotzdem ist die Aussicht von hier oben auf dem Hügel beeindruckend. Vor uns liegt das Queen’s House, davor das Old Royal Naval College, das von hier aus durch seine Symmetrie besticht, sich zur Themse hin öffnet, und nun die in Greenwich entstandene Hochhauswelt in Szene setzt.

Der Blick mehr in Richtung Westen richtet sich auf die Hochhäuser der Innenstadt Londons, auf der Themse liegt die MS Deutschland, und die Masten der Cutty Sark ragen über die Bäume hinaus – das „alte“ Städtchen Greenwich kann man nur in etwa hinter den Bäumen erahnen. Und den Blick etwas mehr östlich ausgerichtet zeigt noch mehr Hochhäuser, ebenso die Kuppel der O2-Arena.

Unsere Fahrt über Land führt uns weiter, über Land, in die Grafschaft Kent. Dazu mehr im nächsten Bericht.

(#England, #Museum, #London, #Technik)

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