Entlang des Ärmelkanals mit der MS Deutschland – Bericht 5
Frühmorgens Start in Greenwich, von der MS Deutschland aus. Nach einem kurzen Halt am Royal Observatory fahren wir mit auf einem über das Schiff angebotenen Tagesausflug in die Grafschaft Kent.

Eigentlich geht es im Bericht darüber, wie interessant, schön und ungewöhnlich sich der Südosten Englands auf einer Reise zeigt. Eine eigenwillige Landschaft, idyllische Städte und Dörfer, Schlösser einhergehend mit höchst unterschiedlichen Lebensgeschichten, riesige Kathedralen und Kirchen, typische Pubs, ein wenig fremd anmutende Spezialitäten.

Ausnahmsweise sind wir nicht auf individueller Entdeckertour, sondern auf organisiertem Ausflug, in einem vollen Bus mit etwa fünfzig Personen, durchwegs ziemlich gehobenen Alters. Wieder einmal zeigt sich, dass die Strecken bei solchen Ausflügen immer sehr überplant sind – viel Fahrzeit, wenig Zeit, irgendetwas in Ruhe anzuschauen. Man hofft immer wieder von Neuem, wenn man auf einen solchen Ausflug geht, auf besondere Eindrücke von den Gegenden, die durchfahren werden, garniert mit Informationen eines sachkundigen Guides. Schnell ist man jedoch auf dem Boden der Realität angekommen – es wird Ziel für Ziel abgefahren, die Landschaft sieht man von Schnellstraßen und Autobahnen aus. Viel Zeit wird auf einem Ausflug damit verbracht, dass aus dem Bus ein- und auszusteigen ist. Die wahrscheinlich häufigste Information auf einem Tagesausflug ist die Ansage, wo es Toiletten gibt, und viel Zeit verstreicht dadurch, dass die Gruppe darauf wartet, bis alle fertig sind.
Unser erster Streckenabschnitt führt von Greenwich nach Rochester, etwa eine Stunde Fahrzeit, am Ziel die erste Tragödie – die angekündigten Toiletten sind geschlossen.

Wir tragen es mit Fassung. Rochester ist ein idyllisches Städtchen, viele alte Gebäude, meist Ziegelhäuser, nette kleine Geschäfte, eine riesige Kathedrale. Zeit für den Ort ist leider gerade mal nur für die nächste dreiviertel Stunde, inklusive Führung. Wir entschließen uns, selbst los zu gehen.

Nach ein paar hundert Metern gibt es schon den ersten geradezu unvermeidlichen ersten Stop. Ein kleines Backsteinhaus, in dem Käsespezialitäten der Region angeboten werden, und in dem man auch Kaffee trinken kann.
Die ersten fünfzehn Minuten des schmalen Zeitbudgets werden hier eingesetzt. Die Käseauswahl ist geradezu bombastisch. Eine Theke voller leckerster regionaler Käse, ob Ziege, Schaf oder Kuh, vom Frischkäse bis zum misstrauisch beäugten vermutlichen Extrem-Stinker. Darunter einer, von dem wir bisher überzeugt waren, dass er die Erfindung eines Roman-Autors sei, allein schon wegen des Namens „Stinking Bishop“. Aber da liegt er, der stinkende Bischof, ein deftiger Rotschimmel, neben ein paar anderen wie einem blauen Stilton, die ihm nacheifern dürften.

Produziert wird der „Stinking Bishop“ in Gloucestershire, aus der Milch von Gloucester-Rindern – lange eine Rasse kurz vor dem Aussterben, bis vor etwa fünfzig Jahren der angeblich stinkendste Käse Englands erfunden wurde, auf Grundlage alter Rezepte von Zisterzienser-Mönchen.
Der Name des Käses weckt Assoziationen, aber er hat anscheinend auch nichts zu tun mit seinem intensiven starken Geruch nach alten, verschwitzten Socken, sondern soll sich beziehen auf eine alte Birnensorte namens „Stinking Bishop“, mit deren Most der Käse bei der Reifung eingerieben wird. Wie auch immer.


Mutige vor. Es wird probiert. Wer nicht zu tief einatmet, genießt einen hervorragenden, schmackhaften, cremigen, intensiven Käse – und ein anderer „Stinker“ zur Abmilderung des Geschmacks hinterher kann nicht schaden.
Im Eilschritt geht es durch die schmale Hauptstraße, immer wieder bedauernd, nicht mehr Zeit zum stöbern zu haben oder in eines der kleinen Seitensträßchen gehen zu können. Vorbei rennen wir an der Ruine des Castles, Überreste einer gut erhaltenen normannischen Burg aus dem 11. Jahrhundert. Schnell noch ein paar Erinnerungsfotos gemacht.

Dann hinein in die Kathedrale, ein beeindruckend riesiges Gebäude inmitten des kleinen Städtchens. Es ist die zweitälteste Kathedrale Englands, deren Anfänge bis ins beginnende 7. Jahrhundert zurückreichen – der Turm aus dem 11. Jahrhundert ist der älteste erhaltene, von außen sichtbare Bauteil.

Gut erkennbar sind innen und außen die verschiedenen Entstehungszeiten über die Jahrhunderte hinweg – mit Seitenschiffen und Kapellen wurde die Kirche immer mehr vergrößert bis ins 15. Jahrhundert hinein. Der Innenbereich zeigt sich ungewöhnlich, vor allem wegen der das Hauptschiff trennenden Chorwand mit darauf liegender Orgelempore.



Überraschende Perspektiven zeigen sich bei einem Rundgang, vor allem vor der Trennwand stehend der Blick hinein zum Hauptaltar.

Im Eingangsbereich stehend kommen wir noch ins Gespräch mit zwei Pfarrerinnen, eine in voller Amtskleidung der anglikanischen Kirche. Es gibt ein paar Anmerkungen zur Kirche, dann aber vor allem ein Gespräch über die Probleme, die sie in der Gemeinde wegen vieler Covid-Fälle haben würden, über die Verunsicherung der Menschen bedingt durch die launisch-wechselhafte diesbezügliche Politik der britischen Regierung, aber auch über ein ambivalentes und nicht immer präventiv ausgerichtetes Verhalten – Anlass zum Gespräch waren die Masken, die die beiden und wir während unseres Aufenthalts in der Kirche trugen.

Dann kommt die fast schon dringliche Empfehlung, uns das auf jeden Fall anzusehen, was zum Andenken an Covid-Opfer in ihrer Kirche von Gemeindemitgliedern im Chorraum vor dem Altar gestaltet worden sei – wir sehen, dass der ganze Altar- und Chorbereich angefüllt ist mit Herbstblättern, beschriftet mit Namen von Covid-Opfern und Wünschen für die Betroffenen.

Dann kommt noch der Hinweis, dass der älteste noch erhaltene Teil die Krypta sei, und wir diese auch noch ansehen sollten. Eine Überraschung für uns – ein wenig noch Grab- und Gedenkstätte, aber der Großteil des Raums wird eingenommen von einem Cafè für die Besucher …


Zeit zu Ende. Wir gehen im Eilschritt zurück zum Treffpunkt, dann zum Bus, und dann wieder etwa eine Stunde Fahrt, zum Leeds Castle, das eines der schönsten Schlösser sein soll. Die Erwartungshaltung ist hoch. Unterwegs einige Informationen der Reiseleiterin, einiges interessant, aber insgesamt so viel geblubbert, dass irgendwann der selbstgesetzte Anspruch, sich etwas zu merken, fast völlig dahin ist. Der Busparkplatz am Parkeingang, dort natürlich zuerst wieder die zentral wichtige Information, zu dem Reiseziel, das vorrangig bei einem Bus-Stop immer höchste Priorität genießt, dort warten, bis alle glücklich und zufrieden sind, und dann noch mal warten, bis ein Touristenzüglein ankommt, das uns durch den Park zum Eingang des Castles fährt.

Leeds Castle zeigt sich auf einer kleinen Anhöhe als eine typische, mittelalterliche Wasserburg mit breiten Wassergräben, sich rückwärtig zu einem See ausweitend, Vorburg und Hauptburg. Es ist ein überschaubares, auf den ersten Blick nicht sonderlich imposantes Wasserschloss, mit allerdings bedeutsamer, später verworrener Geschichte.

Die Bausubstanz zurückreichend auf Wilhelm den Eroberer, im Mittelalter Wohnsitz von mehreren Königinnen, Palast von Heinrich VIII, dann Schenkung an Lord Fairfax für treue Dienste, und dann nach verschiedenen Schenkungen und Erbschaften durch viele Hände gegangen. In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts bei einer Dame gelandet, die sich durch einige Heiraten das Vermögen aufbauen konnte, das es ermöglichte, die Anlage erwerben und unterhalten zu können – erworben wurde die Anlage noch in ihrer Ehe mit bürgerlichem Namen Wilson-Filmer, der Adelstitel Lady Baillie, mit dem sie bekannt wurde, kam in ihrer nächsten Ehe hinzu.



Leeds Castle, das in dürftigem Zustand war, wurde von ihr renoviert und umgebaut, vom mittelalterlichen Schloss zu einem Ort für Feste und Feiern im Stile ihrer Zeit, den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Lady Baillie und ihre Töchter feierten, hatten illustre Gäste aus Politik und Literatur, vorwiegend in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.

Da weist die Gästeliste bei den Veranstaltungen in Leeds Castle Mitglieder des englischen und anderer Königshäuser aus, Abgeordnete und Botschafter, ebenso die Namen von Filmstars wie Errol Flynn, Charlie Chaplin, James Stewart oder Schriftstellern, unter anderem Ian Fleming. Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Schloss zum Lazarett. Ziemlich schnell war es aber wieder nach Kriegsende Ort illustrer Veranstaltungen. Lady Baillie verfügte, dass die Anlage nach ihrem Tod in eine öffentliche Stiftung überführt wird, damit sie der Öffentlichkeit zugänglich bleibt – und so ist es seit 1974.

So ein wenig verwundert ist man beim Durchschreiten der gut, aber nicht wie aufgrund der Ankündigungen vermutet luxuriös ausgestatteten Räume. Es ist auf jeden Fall ein sehr mutiger Mix von einer mehr an eine Festung des Mittelalters orientierten Bauweise samt Festungsmauern, engen Treppenhäusern, schwerer Balkendecken samt späterer Raumausstattungen vorwiegend des 17. und 18. Jahrhunderts mit dem Versuch, Lebensfreude und Leichtigkeit im Stil der 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts in die Räume hineinzuzaubern.

Überall hat man den Eindruck, als würde sich das Bauwerk mit seinen mittelalterlichen Strukturen und dem, was an alter Ausstattung noch vorhanden ist, geradezu wehren gegen all das, was da versucht wird, an neuem Zeitgeist im alten Gemäuer umzusetzen.



Im Ergebnis zeigt sich eine erstaunliche Mixtur aus Relikten weit vergangener Jahrhunderte verknüpft mit Elementen der 20er-Jahre, die fast verloren und vor allem unpassend die große Geschichte dieses Schlosses übertünchen – ob in den Wohnräumen, den Schlafzimmern und noch mehr im Ballsaal, der eher Zwielicht als Großzügigkeit ausstrahlt.



Wirklich auffallend ist das Badezimmer, für damalige Zeit höchst luxuriös ausgestattet, dazu die Vorräume mit Einbauschränken, ob für Schuhe und Wäsche und alles, was man so im Bad benötigt, oder die Ankleidezimmer.


Überall in den Räumen sind Kunstgegenstände zu sehen, an denen diejenigen eine Freude haben werden, die davon viel verstehen – aber eigentlich sind es mehr die Kleinigkeiten des Alltags, die beeindrucken, die überall irgendwie herumlegen, und deren Bedeutung man erst richtig einschätzt durch die zeitliche Zuordnung, seien es Schuhmodelle, Mode- und Filmzeitschriften, Seidenstrümpfe und Unterwäsche, Filmrollen und ein Vorführgerät, ein stylischer Metallstuhl oder was auch immer. In einigen Räumen ist das Inventar ziemlich nach Aufbruchsstimmung präsentiert. Informationstafeln und großformatige Fotos weisen auf einen sehr lässigen Lebensstil hin, darauf nicht zuletzt auch der Tanzsalon im Obergeschoss.

Wer sich für eine besondere Verwobenheit von Personen und Lebensstilen interessiert und etwas tiefer in die Geschichte dieses Castles eintaucht, wird sicherlich ganz viel Überraschendes finden.

Zeit ist für den Aufenthalt im und am Castle etwa zwei Stunden. So rasen wir etwas durch das Castle, sprechen am Eingang noch mit einem älteren Herrn der Schlossaufsicht, der etwas süffisant und doch typisch englisch vornehm-zurückhaltend einige Anmerkungen über die letzte Dame des Hauses und ihre Töchter fallen lässt, aber auch zur Art der sich modern verstehenden Ausstellung im Castle, der er auch nicht sonderlich viel abgewinnen kann. Natürlich darf auch eine Anmerkung nicht fehlen zur Fähigkeit von Lady Baillie, sich selbst zu inszenieren – nicht nur durch die Gestaltung des Castles nach ihren Wünschen, umgesetzt unter anderem durch den von ihr engagierten französischen Designer Stéphane Boudin, sondern auch durch ihr „Outfit“, dokumentiert in Bildern und Zeichnungen, die im Castle von Lady Baille und ihren beiden Töchtern zu sehen sind.





Kurze Pause. Wir essen im Schnellverfahren im Restaurant in einem der Nebengebäude des Schlosses zusammen eine Portion Fish & Chips – schien uns passender zur Sachlage zu sein als das Lunch-Care-Paket, das wir vom Schiff mitbekommen haben.
Fast versteckt, hinter den aus Backsteinen errichteten Nebengebäuden zeigt sich nahe des Schlosses, am Rande des Schlossteichs, inmitten der Parkanlagen ein prächtiger Schlossgarten mit dichten alten Buchsbaumhecken, die Beete bestückt mit Kräutern und Gemüse, dazwischen immer wieder bunte Blumen, geschickt platziert mit Perspektivenwirkung Säulenzypressen und Obstbäume.





Am Hang zum künstlich angelegten See abfallend ist ein mediterraner Terrassengarten zu entdecken, bestückt mit Palmen, Bananenstauden, Oliven und typischen Pflanzen des Südens.



Eher naturwüchsig zeigt sich dagegen ein kleiner Bachlauf durch ein den fast wie einen Wald angelegten Teil des englischen Gartens – wir wählen den recht idyllisch angelegten Weg am Bach, um nicht mit dem Bähnchen, sondern zu Fuß von der Anhöhe hinunter zum Bus zu kommen.







Weiter geht es, die nächsten etwa eineinhalb Stunden Fahrt, mit einigen Streckenanteilen, bei denen es wenigstens ein wenig aus dem Bus heraus zu sehen gibt. Vor allem sind es weite Weiden, mit unzähligen Schafen – leider nicht im Foto festhaltbar, da der Bus zügig über die Straßen rauscht, in die Grafschaft Sussex. Wir fahren nach Rye, einem kleinen, ehemaligen Fischerort, der jetzt durch Verlandungen etwa drei Kilometer vor der Küste liegt, und einer der schönsten in Südengland sein soll – und im alten Stadtkern tauchen wir tatsächlich ein, mitten hinein in die Vergangenheit.





Hier stimmt einfach noch so ziemlich alles, Häuser, Straßen, Gärten. Es ist ein schmucker kleiner Ort, in dem Ladengeschäfte und Wohnhäuser aus den letzten Jahrhunderten in verschiedensten Baustilen erhalten sind, ein wenig Bäderarchitektur der Jahrhundertwende, aber weit mehr Natursteingebäude oder Backsteinhäuser, entstanden quer über die Jahrhunderte hinweg oder Fachwerkhäuser eher mittelalterlicher Prägung.


Überraschend licht und hoch zeigen sich von außen sichtbar die Etagen der mehr herrschaftlichen Gebäude des 19. und 20. Jahrhunderts, niedrig und gedrängt diejenigen der alten Fachwerkhäuser, an denen Jahreszahlen schon aus dem 15. Jahrhundert zu entdecken sind.



Die alten Straßen und Gassen sind gepflastert, viele davon noch mit den kaum begehbaren, unbehauenen runden Steinen, führen auch steil die Anhöhen hinauf und hinunter. Man staunt, dass sich das alles noch so erhalten hat, und stolpert die Wege entlang.





Hüte, Kunst, Deko, Süßwaren … In den kleinen Ladengeschäften zeigt sich so ein wenig der skurrile englische Lebensstil – und ebenso auch an den Schuluniformen der Schülerinnen und Schüler, die gerade am Bus vorbeikommen, und bei denen sich die kleinen modischen Variationen nicht in zerschlissener Jeans, sondern mehr an Rucksäcken und Strümpfen ausdrücken …




Aber nach einer dreiviertel Stunde ist alles wieder vorbei – es ist Zeit, um wieder mehr als eine Stunde Busfahrt über die Autobahn genießen zu können, um pünktlich am Schiff anzukommen, das uns in Dover aufpicken wird. Vorher natürlich von der Reiseleitung die Frage, ob alle auch das erledigt haben, was zu den wichtigsten Dingen bei jedem Ausflug gehört, da auf der Rückfahrt keine Zeit für ein Zwischenhalt eingeplant sei. Pünktlich zum Abendessen sind wir beim Schiff – denn nicht Abfahrtzeiten sind wichtig, sondern Essenszeiten, die natürlich einzuhalten sind. Das Schiff steht jedoch noch viele Stunden in Dover, warum auch immer – die hätten wir gerne lieber unterwegs in Südengland noch genutzt.

Für uns gilt wieder einmal – es gab einiges zu sehen, aber solch organisierte Ausflüge sind schön und gut, wenn man sich gar nicht anders zu helfen weiß … Und so freuen wir uns auf den nächsten Tag im kleinen Küstenort Poole an der südenglischen Küste, mit ganz eigenem Entdeckerprogramm.
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