Der nächste Morgen. Wir haben nicht sonderlich gut oder gar lange geschlafen. Der erste Blick aus dem Fenster, morgens gegen 6 Uhr, zeigt einen immer noch reißenden Fluss vor unserer Haustüre, sicherlich noch mehr als einen Meter tief. Die Bewohner der Erdgeschoßwohnungen mussten sich in der Nacht auf die oberen Ebenen retten. Später erfahren wir, dass dies in einigen Stadtteilen gar nicht ausreichte; hier saßen die Menschen sogar auf den Dachfirsten.

Wir trauen unseren Augen fast nicht. Um uns herum sind nicht Gärten, vor uns nicht die kleine Wohnstraße – seit heute Nacht leben wir inmitten einer Wasser-Landschaft, die alle Gebäude nicht nur umschließt, sondern auch Erdgeschoßwohnungen und Garagen mit einbezogen und durchflutet hat.
Inmitten einer Wasser-Landschaft
Die Liegewiese der Ahrtherme und auch der Garten des Nachbarn sind zum See geworden. Bei uns kann der untere Teil des Treppenhauses nur mit Mühe begangen werden; alles ist schlammig und rutschig. An der Einfahrt zur Tiefgarage ist zu sehen, dass diese auch noch auf halbe Höhe unter Wasser steht. Von oben sieht das Flachdach der außen liegenden Tiefgarage aus wie ein gefülltes Schwimmbecken. Da die Umrandung höher ist als die Dachfläche, haben die Wassermassen einfach alles aufgefüllt, und die Abflüsse sind längst vom Schlamm verschlossen.






Hinaus aus dem Haus geht es am Morgen noch nicht – da müssten wir tatsächlich durchs Wasser waten. Erst im Laufe des Vormittags läuft das Wasser so weit ab, dass unsere Straße wieder als solche erkennbar wird. Noch sind kaum Anwohner draußen zu sehen, erst recht noch keine Rettungskräfte; später bekommen wir mit, warum – unser Stadtviertel ist so ziemlich von der Außenwelt abgekoppelt, alle Brücken über die Ahr sind weg oder unpassierbar. Irgendwann sind die ersten Menschen draußen zu sehen, alle staunend und fassungslos.



Wir gehen am frühen Nachmittag erstmals wieder aus dem Haus; das Treppenhaus ist so voller Schlamm und Wasser, dass es kaum zu begehen ist – und dasselbe gilt auch für die Straße. Klebriger, oft mehr als schuhhoher Schlamm überall, tiefe Löcher in der Straße, herausgerissene Pflastersteine, Pfützen und zum Teil noch kleine Wasser-Rinnsale. Bei einigen Häusern wird schon aller Hausrat herausgetragen, der durch das schlammige Wasser zerstört wurde.

So waren wir in der Mittelstraße unversehens mitten in einem Geschehen, mit dem wir an der Ahr, und noch weniger vor unserer Wohnung, nie gerechnet hatten. Die Gesamtheit der Zerstörungen, die haben wir zu diesem Zeitpunkt nicht im Blick. Können wir auch nicht haben – denn wir sind mehr oder weniger von der Außenwelt abgeschnitten, nicht nur ohne Strom und Wasser, sondern auch ohne Nachrichten und Internet.



Irgendwann sind die ersten Feuerwehrfahrzeuge zu sehen, auch Rettungswagen. Auf der Straße gleich in der Nähe von uns hat das Wasser Pflastersteine und allerhand mehr zusammengeschoben, fast wie zu einem kleinen Damm – der wird jetzt mittels Planierraupe durchbrochen, damit die Rettungsfahrzeuge auch im weiteren Straßenverlauf durchkommen.
Straßen voller Schlamm, Steine und Autos
Später wird in unserer Straße dann evakuiert. Wer möchte, kann sich mit Fahrzeugen der Feuerwehr oder der Bundeswehr in eine der Notunterkünfte bringen lassen.



Von den Rettungskräften hören wir, dass es ein paar Tage dauern wird, bis Wasser und Strom wieder da wären – das eröffnet zumindest eine kleine Perspektive. Mit solchem Zeitfenster versehen beschließen wir, auszuharren. Schließlich hatten wir ein paar Tage zuvor noch festgestellt, was für eine lebenswerte Stadt Bad Neuenahr doch ist – ein sehr schönes, einzigartiges Tal, Restaurants und Geschäfte, Kultur und Unterhaltung, viel grün in und um die Stadt, und mittendrin ein beschauliches Flüsschen, die Ahr.

Gleich uns gegenüber, der Weg entlang der Ahrtherme, ist kaum begehbar; die Becken der Therme sind mit braunem Schlammwasser gefüllt. Der Zaun hat sich als Fangzaun für alles, was das Wasser mitbrachte gezeigt und sieht aus wie ein bizarres Kunstwerk. An den Fenstern der Therme ist zu sehen, wie hoch das Wasser einmal stand.





Über uns fliegen laufend Hubschrauber, kreisen über Neuenahr, fliegen entlang der gegenüberliegenden Weinberge und verschwinden dann dahinter – alle. Wir rätseln, was das zu bedeuten hat, vermuten den Weiterflug in Bereiche mit noch größeren Problemen. Recherchieren können wir nicht, Strom und Internet fehlen. Später, als wir aus Bad Neuenahr draußen sind, bekommen wir mit, dass es hinter den Weinbergen weiter geht zum Betriebsgelände von Haribo in der Grafschaft – dort werden jetzt nicht Lastwagen mit Gummibärchen abgefertigt, es ist vielmehr eine große Notunterkunft eingerichtet, samt Hubschrauberlandeplatz.
Ein Kurviertel ist nicht mehr zu erkennen
Am Donnerstag Nachmittag machen wir einen kleinen Rundgang, vor zur Ahr, die immer noch viel überschwemmt, sich aber wieder mehr am Flussbett orientiert, soweit das noch vorhanden ist. Um uns herum zeigt sich die Situation immer noch erschreckender. Nie hätte man geglaubt, dass Häuser so zerstört und Straßen so aufgerissen werden könnten.

Wenn man es nicht wüsste würde man annehmen, es sei nicht die Felix-Rütten-Straße, sondern ein kleiner schlammiger Bach, den man überquert.

Rund um den Kursaal und die Spielbank ebenso wie vor dem Kurhaus zeigt sich eine Schlamm-Kies-Landschaft. Straße und Grünanlagen sind verschwunden.

Die Geschäfte und Galerien in der Hotelpassage – restlos zerstört. Vor dem Kurpark liegen die Überreste der Weinstände.






Die beiden stilvollen alten Stadtvillen gegenüber gewähren ungewohnte Einblicke.

Bei einem der Gebäude ist die Straßenfront des Hauses völlig weggerissen, beim anderen fehlt das ganze Eck des Hauses.



Die Promenade entlang der Ahr steht noch komplett unter Wasser. Häuser stehen noch im Fluss, immer noch tragen die erstaunlich wilden Wellen allerhand mit sich, und irgendwelche Versorgungsleitungen und Rohre ragen aus den Fluten. Zerschmetterte Autos sind zwischen Bäumen eingeklemmt, an diesen hochgestellt oder gar regelrecht um Baumstämme gewickelt.






Unser kleiner Rundgang zeigt schnell, dass der Bereich der Innenstadt, in dem wir wohnen, so ziemlich von der Außenwelt abgeschnitten ist. Über die Ahr geht es nicht mehr, die Brücken sind weg. Die Straße entlang der Ahr steht unter Wasser. Die einzige Möglichkeit, raus zu kommen wäre die ganz lange Strecke über den Berg nach Königsfeld, etwa 13 Kilometer, die von den Rettungskräften genutzt wird.
Noch ist ziemlich ungläubiges Erstaunen angesagt – und angesichts all dessen, was zu sehen ist, kann man sich nicht vorstellen, dass Bad Neuenahr in absehbarer Zeit wieder zu einem regen, lebenswerten Städtchen werden wird.
(#Deutschland, #Ahrtal, #Katastrophe)